
Angeschossenes Mädchen in Bochum: Interview mit Kriminologen
Nach dem Vorfall in Bochum-Hamme, bei dem ein 12-jähriges gehörloses Mädchen durch einen Polizisten angeschossen wurde, stellen sich viele die Frage, ob der Einsatz der Waffe gerechtfertigt war. Rafael Behr ist ehemaliger Professor für Polizeiwissenschaften mit den Schwerpunkten Kriminologie und Soziologie am Fachhochschulbereich der Akademie der Polizei Hamburg und hat mit Radio Bochum über den Vorfall in Hamme gesprochen.
Veröffentlicht: Dienstag, 18.11.2025 16:44
Nach Vorfall in Bochum-Hamme: Experte zu Polizeirecht
Radio Bochum: Könnten sie vielleicht zum Einstieg ganz allgemein das, was der aktuelle Kenntnisstand über diesen Fall ist, aus ihrer Sicht bewerten, wie das gelaufen ist?
Behr: Das Ganze hat ja eine tragische Komponente und das ist das Alter des Opfers, also des Mädchens. Das ist auch nicht die normale Klientel der Polizei. Darauf sind sie eigentlich am schlechtesten vorbereitet, wenn es darum geht, dass Kinder quasi ihnen bewaffnet gegenübertreten. Und so war ja auch die Genealogie, also die Entwicklung des Falls. Die sind nicht wegen eines Messerantritts informiert worden, sondern es war ja eine Vermissten-Sache, die eigentlich in der Gedankenwelt der Polizistinnen ganz anders abläuft. Nämlich da braucht jemand Hilfe, den müssen wir finden und so weiter. Also da war ja der Schutzgedanke sozusagen im Vordergrund und dann ändert sich die Lage dramatisch und plötzlich. Und jetzt stehen wir im Dunkeln mit unserer Kenntnis, weil die Dinge nicht genau beschrieben worden sind, die sich dann abgespielt haben in dieser Wohnung. Was gesagt wurde, ist, dass das Mädchen plötzlich anwesend war und mit zwei Messern auf die Polizisten zuging. Wir wissen nicht, wie schnell, mit welcher Absicht, mit welcher Haltung? Wir kennen nur die Einschätzung der Polizisten, die offenbar eine große Gefahr gesehen haben, also diese Messer gesehen haben und dann beide parallel zueinander zu ihren Ausrüstungsgegenständen begriffen haben, die ihnen sozusagen zur Verfügung standen. Das war dieser Taser, also dieses Elektroimpulsgerät und die Pistole offenbar. Und das hat eine kontraproduktive Wirkung erzeugt. Wir wissen aber nicht, aufgrund welcher Rationalität diese Waffen ins Spiel kamen. Das kann man erst bewerten, wenn wir darüber Aussagen der eingesetzten Kräfte haben und vielleicht im Optimalfall noch objektive Beweismittel wie Fotos, ein Telefon oder andere Zeugen, natürlich auch Betroffene. Also da ist vieles im Dunkeln. Wir sind jetzt tatsächlich darauf angewiesen, was die Staatsanwaltschaft Preis gibt an Informationen.
Radio Bochum: Könnten sie denn erklären, wie generell die Richtlinien sind, was den Gebrauch von Waffen eingeht, wann welches Mittel eingesetzt wird bei solchen Einsätzen?
Behr: Ja, das ist relativ klar und deutlich geregelt. Der oberste Grundsatz ist im Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen, dort steht in Paragraph 14, dass der Einsatz von Schusswaffen gegenüber dem äußeren Anschein nach Kindern verboten ist. Punkt. Sei es nach Polizeirecht, können die schon mal gar nicht vorgegangen sein. Und dann gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass erst mit körperlicher Gewalt, dann mit den Hilfsmitteln der körperlichen Gewalt, dazu zählen also das Pfefferspray, und dann mit Waffen und dazu zählt dann ein Schlagstock oder Taser und die Schusswaffe. Das muss aber in einem abgestuften Verfahren vor sich gehen, außer die unmittelbare Bedrohung ist so plötzlich, dass sich die Beamten in Notwehr befinden. Notwehr ist ein Paragraph aus dem Strafgesetzbuch, also nicht nach dem Polizeirecht. Aber auch da gilt im Zusammenhang mit Kindern eine erheblich höhere Anforderung an diese Notwehrsituation als bei einer Notwehr unter Erwachsenen beispielsweise, weil man unterstellt, dass Kinder von Natur aus nicht so gefährlich sein können wie Erwachsene. Und auch hier hätte man in einem stufigen System prüfen müssen: Geht nicht zum Beispiel ausweichen? Geht vielleicht eine passive Verteidigung? Und erst im aller letzten Moment, wenn alles nicht mehr geht, ist es dann die sogenannte „Trotzwehr“. Im Gesetz heißt das, dass die Polizei sich erst dann selbst aktiv wehren darf, indem sie tatsächlich auch von der Schusswaffe Gebrauch macht. Und nachdem, was ich gehört habe ging der Schuss ja sogar in den Torso, also in den Bauchbereich und nicht auf die Extremitäten. Aber das kann man in diesen Situationen schlecht unterscheiden, beziehungsweise man kann es nur ganz schlecht steuern, wohin dann geschossen wird. Also ich glaube, es ging für die Polizisten total schnell und die haben in, subjektiv gesehen, großer Not von dem Gebrauch gemacht, was Ihnen bis dahin auch möglich war. Ob das jetzt insgesamt alles rechtlich in Ordnung ist, kann man natürlich jetzt noch nicht sagen. Das kann im Prinzip nur die Staatsanwaltschaft bewerten.
Behr: "Wenn es ganz schnell gehen muss [...] dann entfallen häufig solche Momente, in denen man noch redet [...]."
Radio Bochum: Jetzt war nicht nur das Alter des Mädchens, in diesem Fall auch so besonders. Die Mutter hat ja die Tür aufgemacht, wie es sich darstellt. Aus anderen Aussagen von ihr geht hervor, dass sie dann heruntergedrückt worden sei von dem Polizisten. Wie ist das Vorgehen, wenn die Polizei in Wohnungen reinkommt? Was passiert mit den dort Wohnenden oder anwesenden Personen passiert laut Protokoll? Und natürlich stellt sich auch die Frage nach der Verständigung, weil man ja diese Barriere hat, dass die Frau die Klingel oder die Beamten gar nicht erst hören konnte. Gibt es da Dolmetscherinnen?
Behr: Ich glaub die waren nicht im Einsatz. Es gibt Gebärdendolmetscherinnen, aber die sind offenbar in diesem Zusammenhang nicht angefordert gewesen. Es muss den Polizisten aber bekannt gewesen sein, dass es diese Einschränkung gibt, denn es ist ja eine Vermisstenfahndung aufgegeben worden auf der Wache und da werden solche Daten abgefragt. Es ist natürlich ein immenses Kommunikationsproblem, wenn man sich nicht verständigen kann verbal, und das ist eigentlich das Haupteinfallstor der Polizei, nämlich Anordnungen zu geben. Anweisungen, denen sich die anderen fügen müssen. Ansonsten müssen sie dann sehr schnell auch unmittelbaren Zwang anwenden das kann so gewesen sein, dass die Frau gar nicht verstanden hat, was sie machen soll. Die Polizisten dachten aber, dass sie nicht das macht, was wir, was wir jetzt für nötig halten. Ich weiß auch nicht, ob die Polizisten wussten, dass auch die Mutter gehörlos war. Das sind alles Dinge, die noch geklärt werden müssen. Aber ansonsten glaube ich, dass die Welt der Polizei eine Andere ist als die der Privatpersonen dort, die natürlich erstmal in ihrem eigenen Wohnraum im Wohnraum auch verteidigen wollen. Bei der Polizei geht es sehr schnell darum, dass Anweisungen oder notwendige Anordnungen nicht verfolgt werden. Und dann je nach Dringlichkeit werden wir dann auch sehr schnell körperlich und versuchen, schnell zum Ziel zu kommen und diese Schnelligkeit, also den Einsatz, schnell zu bewältigen, ist häufig nicht zielführend, sondern führt zum Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt ist, nämlich zu Widerstand und zu Unverständlichkeiten. Ich glaube eh, dass es in den meisten Fällen des Widerstands oder des Schusswaffengebrauchs Kommunikationsstörungen waren, weil die Betroffenen einfach nicht verstanden haben, was die Polizisten von ihnen wollen, aus welchen Gründen auch immer. Das kann sprachliche Unfähigkeit sein, das kann wie Gehörlosigkeit sein, das kann aber auch Aufregung sein, es können Drogen sein oder eine psychotische Situation. Es gibt ganz viele Gründe, weshalb Polizisten nicht verstanden werden können. Das spielt aber in solchen Situationen für die Einsatzkräfte oft gar keine Rolle, sondern sie lösen diese Sache dann schnell auf ihre Weise. Und da ist die körperliche Präsenz eines der ersten Mittel, weil die Polizei in so einer allgemeinen Dominanzsituation sich befindet, also sie sind immer bestrebt, sozusagen als Sieger vom Platz zu gehen und nicht lange sich Risiken auszusetzen. Das hat hier auch dieses dramatische Ergebnis gebracht.
Radio Bochum: Das heißt, laut Protokoll sind Polizisten erstmal dazu angewiesen, zu kommunizieren, was die Menschen zu tun haben. Sie sollen oder dürften also erst dann „handgreiflich“ werden, oder wie ist das, wenn man in Wohnungen eindringt?
Behr: Genauso ist es richtig. Eigentlich steht immer als Erstes die verbale Kommunikation im Raum und dann erst die physische Durchsetzung. Das folgt diesem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Auch polizeiliche Maßnahmen müssen im Prinzip angedroht werden. Der Klient muss wissen, was die Polizei von ihm will und sich danach verhalten. Es gibt aber bei allen diesen Anweisungen immer die große Ausnahme und die besteht darin, wenn es ganz schnell gehen muss. Und dann entfallen häufig solche Momente, in denen man noch redet, weil schnell irgendwas passieren soll. Und das wird dann immer als Ausnahmegrund mit erwogen. Also natürlich, da haben Sie völlig recht, gehört das auch zu dem Selbstverständnis der Polizei. Ich höre dann ganz oft so Sätze wie die wirksamste Waffe ist das gesprochene Wort und so weiter. Aber das gesprochene Wort hat, wenn es schnell gehen muss, eben wenig Chance auf Gehör.
Wann greift die Polizei zur Waffe?
Radio Bochum: Aus den sozialen Medien kommt häufig dieser Kommentar, wie es sein kann, dass zwei Erwachsene, und so wie sich das laut Polizei Essen darstellt, waren es Männer, also sie sprechen von Polizisten zumindest, in Schutzkleidung nicht das Gefühl haben, sich gegen ein zwölfjähriges Mädchen, wenn auch mit Messern, wehren zu können. Wie ist das in der Polizeiausbildung, was sowas angeht? Es gibt ja auch Kampfsporttraining?
Behr: Das ist alles richtig. Nur muss man sagen, dass die Expertise der sozialen Netzwerke hier auch merkwürdig ist, weil sich die wenigsten von denen, die sich jetzt dazu verhalten, in solchen Situationen selbst waren. Ich will das nicht verniedlichen und will es auch nicht entschuldigen, aber tatsächlich ist die Stimmung in der Polizei, das Klima hat sich in der Polizei in den letzten Jahren, sehr stark in Richtung „Wir werden Opfer, wir werden angegriffen“ verschoben. Es ist eine sehr starke Bedrohtheitssituation entstanden und ein wichtiger Grundsatz für Polizistinnen ist: Sobald Messer im Spiel sind, besteht für uns Lebensgefahr, egal wer das Messer führt. Das ist übrigens auch ein Gegenargument gegen den Rassismusvorwurf der häufig erhoben wird. Dass gesagt wird, Polizisten agieren gegenüber schwarzen Menschen zum Beispiel stärker und schießen schneller und so weiter. Ich halte das für nicht richtig und dieser Fall zeigt es gerade: Es sind die Kommunikationszüge, also die Unmöglichkeit, zu kommunizieren, die dann zu solchen Verhaltensweisen führt. Und tatsächlich steht im Mittelpunkt der polizeilichen Aufmerksamkeit die Waffe, also das Messer, die Bedrohung und nicht der Mensch um sie herum. Und im Falle von Suiziden, von psychotischen Zuständen und auch im Falle dieses Mädchens, das aus anderen Gründen sozusagen in einer aufgeregten Situation war, muss man schon sagen, dass die Polizei nicht die Not der Menschen sieht, sondern nur die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Und ich will es mal kurz so zusammenfassen: Sie sehen nur die Messer oder den gefährlichen Gegenstand und nicht mehr den Kontext, der um sie herum ist. Das ist sozusagen eine Art Tunnelblick, der sich wirklich auf die Gefahr durch diese Waffe richtet. Und wenn Sie mit Polizisten sprechen, sagen, es ist egal, wie groß, wie alt, welches Geschlecht die Person hat - von dem Messer geht immer eine Gefahr aus. Ich würde natürlich auch sagen, man muss und kann sehr wohl die Gefährlichkeit einer Zwölfjährigen von der Gefährlichkeit eines Dreißigjährigen unterscheiden. Warum das nicht gemacht worden ist, weiß ich nicht. Möglicherweise haben die Polizisten in diesem Fall gute Gründe gehabt, so zu reagieren. Allerdings bleibt da doch ein sehr, sehr großes Fragezeichen und es muss sehr gut nachgefragt werden, warum diese Unterscheidung nicht gemacht worden ist. Aber per se, also ganz generell gesagt, wäre es naiv zu glauben, von Kindern geht überhaupt keine Gefahr aus. Das wird zwar immer als Schutzbehauptung gesagt, auch von der Polizei, dass sie auf das Alter keine Rücksicht nehmen könnte. Ich wäre da nicht ganz so kategorisch, aber vom Prinzip her können diese Gegenstände auch in den in den Händen von Kindern viel Schaden anrichten. Und das wird in der Lebenswelt der Polizei natürlich potenziert, weil sie ganz häufig diese Erfahrungsberichte von Kollegen mitbekommen. Da wird natürlich erzählt, was alles passiert und dass immer alles schlimmer wird. Und die Gewerkschaftsfunktionäre reden ja immer ein, dass sie immer öfter Opfer werden, dass es immer mehr Messerangriffe gibt. In diesem Klima entsteht tatsächlich so ein allgemeines Bedrohtheitsgefühl. Und dann ist ja Ausgeglichenheit und für eine nüchterne Abwägung und Situationsdiagnose häufig kein Platz mehr. Ich bedauere das auch, weil ich weiß, dass in den Ausbildungsszenarien immer diese Worst-Case-Situationen geübt werden, beziehungsweise ist das dort ein bisschen eingeschränkt. Die werden am meisten geübt und die Dinge, die vielleicht dazu führen etwas Ruhe reinzubringen, vielleicht sogar eine Situation zu entkrampfen, indem man beispielsweise überlegt, ob man nicht einfach eine Tür zumachen kann. Ich weiß jetzt nicht, ob das in dieser Wohnung überhaupt möglich gewesen wäre. Ich stelle nur Überlegungen an, dass man den Blick weitet, dass man den Kontext stärker analysiert, dass man die Situation anders bewertet als dramatisch. Das wird weniger bis gar nicht geübt. Da müssen die Studierenden der Polizei schon sehr viel Glück haben, wenn sie auf Ausbilder stoßen, die sagen: Ihr könnt auch mal einen Schritt zurückgehen, ihr könnt es euch vielleicht leisten, bisschen ruhiger zu werden. Das hängt beispielsweise an ganz einfachen Dingen. Polizisten reden in der Regel. mit den Klienten laut und schnell. Lautstärke und Tempo ist für viele Leute in diesen aufgeregten Situationen genau das Gegenstück zu dem, was sie gebrauchen können. Aber die Logik der Polizei stößt hier tatsächlich auf einen Bedarf der Klienten, der völlig anders ist. Das ist ganz schlecht zu vermitteln, dass man vielleicht auch leise spricht, dass vielleicht nur einer redet, dass man vielleicht andere kreative Dinge tut, die die Situation entkrampfen. Da fehlt oft die Muße, auch der Wille, in solchen Situationen auch an andere Dinge zu denken, weil man glaubt, man muss erstmal das Schlimmste verhindern und dann ist dieses Dogma da: Unterhalb von sechs Metern wird die Waffe gezogen, also wenn man unterhalb von der Distanz von sechs Metern jemand auf sich zu kommen sieht, darf er dann von der Notwehr Gebrauch machen und dann kommt es auch in solch einem geschlossenen Räumen zu diesem dramatischen Einsatz.
Radio Bochum: Danke Ihnen für das Gespräch!